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Teil 2: Kindeswohl in der Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Gericht als „Kindeswohlgefährdung“

1)         Die Anwendung der „am wenigsten schädlichen Alternative“ als Weg zum Kindeswohl

Da der Versuch, den Begriff Kindeswohl zu konkretisieren, bisher in eine Sackgasse geführt hat, soll nun über sein Gegenteil, nämlich die „Kindeswohlgefährdung“, die weitere Erörterung stattfinden. Die Literatur hierfür ist umfangreicher, und es beteiligen sich Juristen sowie Psychologen als auch Mediziner und Sozialpädagogen. Anhand der grundlegenden Arbeiten von Joseph Goldstein, Anna Freud und Albert J. Solnit soll nun diskutiert werden, ob der Begriff Kindeswohl zufriedenstellend durch die Reduzierung oder die Abwehr seines Gegenteils, nämlich der Kindeswohlgefährdung, gewonnen werden kann.[1]

Die drei Titel „Jenseits des Kindeswohls“ (1973), „Diesseits des Kindeswohls“ (1982) und „Das Wohl des Kindes“ (1986) von Joseph Goldstein u.a. eignen sich zum Einstieg in die inhaltliche Debatte von „Kindeswohlgefährdung“ erstens, weil sich spätere Autoren zwar teilweise kontrovers, aber doch immer wieder auf diese Thesen beziehen[2] und zweitens, weil die Autoren, wie diese einleitend bemerken, als erste den interdisziplinären Versuch starteten, Eingriffe in die Familie gleichzeitig juristisch, medizinisch und psychologisch zu analysieren.

Vor allem aber sind hier, wie im Folgenden ausgeführt wird, die extremen Positionen der „am wenigsten schädlichen Alternative“ bei Scheidungen und die des „minimalen staatlichen Eingriffes“ in die Familie als Richtlinien für Kindeswohl entwickelt worden. Goldstein u.a. haben damit Maßstäbe gesetzt und sowohl die Rechtsprechung als auch die Arbeit in den Jugendämtern sehr beeinflusst.[3]

Nachteil dieser Texte ist, um es vorwegzunehmen, dass sich die Autoren auf Fälle beziehen, die bereits zu Gerichtsverfahren geführt hatten. Da es in dieser Arbeit jedoch im dritten Teil hauptsächlich darum gehen soll, wie Sozialarbeit aussehen muss, damit es zu dieser Art oder Phase von Auseinandersetzungen gar nicht erst kommt, werden die juristischen Aspekte lediglich im Ansatz benannt. Die im Folgenden aufgestellten Prämissen der Autoren sollten aber im sozialarbeiterischen Handeln im Sinne des Kindeswohls Berücksichtigung finden.

Entwicklungspsychologische Perspektiven auf Eingriffe in Familien

Obwohl es als Rückschritt im Gedankengang der Arbeit erscheint, soll an dieser Stelle ein Begriff von Kindeswohl dargestellt werden, wie ihn Goldstein u.a. aus entwicklungspsychologischer Sicht formulieren. Erstens, weil hiermit der von der Jugendhilfe eingeschlagene Weg, die Zusammenarbeit der Eltern zu suchen und diese in ihrer Erziehung zu unterstützen, als notwendig für die Realisierung von Kindeswohl begründet wird. Zweitens, weil das anschließend dargestellte Prinzip des Eingriffs nach „minimalen Kriterien“ unverständlich bliebe.

Mit „Jenseits des Kindeswohls“ (1973) möchten die Autoren ihren Lesern die psychologische Entwicklung des Kindes näher bringen und wie Trennungen aus der Kindesperspektive wahrgenommen werden. Mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse wird das besondere Zeitverständnis[4] von Kindern in unterschiedlichen Altersgruppen in Verbindung mit deren Fähigkeiten zum Triebaufschub und deren Möglichkeiten, elterliche Imagines[5] in sich aufrecht zu erhalten, dargestellt.

Kleinkinder können elterliche Imagines nur wenige Tage und Wochen aufrecht erhalten, ohne dass die konkreten Personen verfügbar sind. Das macht sie von den Eltern in höchstem Maße abhängig. Ein Wechsel der Bezugsperson führt zu einer generellen Herabsetzung der späteren Bindungsfähigkeit mit der Folge von Gefühlsarmut im Erwachsenenalter. Bei Schulkindern führt eine Trennung häufig dazu, dass bereits erworbene Fähigkeiten wieder aufgegeben werden. Bei Pubertierenden wurde beobachtet, dass eine Trennung die Ablösung von Autoritäten und ihre Verselbständigung unterstützen kann, falls nicht schon Entwicklungsdefizite beim Jugendlichen vorliegen. Kritisch anzumerken ist, dass diese Form von Ablösung allerdings eher an ihnen vollzogen wird, als dass sie ein Ausdruck ihrer eigenen Ablösungsbestrebungen ist. Dies stellt eine nicht unerhebliche Störung in der notwendigen Autonomieentwicklung dar.[6]

Vor allem das kleine Kind benötigt souveräne und für sein Erleben allmächtige Vorbilder, damit es sich sicher fühlen kann. Es braucht Objekte, an denen es seine Zuneigung und seine Aggressionen gefahrlos äußern kann und von denen es aktive Hilfe erhält, sein Triebleben in Bahnen zu lenken.[7] Äußere Bedingungen können von kleinen Kindern nicht als objektive wahrgenommen werden, sondern werden aufgrund entwicklungsbedingter magischer Allmachtsvorstellungen als selbst verursacht empfunden. Die Kinder, welche das Unglück einer Trennung von den Eltern erleiden müssen, geben sich in der Regel selbst die Schuld und stürzen in große Hilflosigkeit und Verzweiflung.[8] Zur Verarbeitung traumatischer Ereignisse, wie es Trennungen und familiäre Konflikte sind, benötigen sie eine besonders zuverlässige, souveräne und dauerhafte Begleitung, die gerade in Krisensituationen verloren geht.

Mit jeder neuen Trennung und jedem neuen Wechsel (auch ein Wechsel zurück in die Herkunftsfamilie) der Bezugsperson reduziert sich auch die Fähigkeit des Kindes, eine tiefere Bindung einzugehen.[9] Hier sind vor allem Richter aufgefordert, schnell und auf Dauer zu entscheiden. Lange juristische Verfahren haben sich nicht als ein Zeichen von Gründlichkeit erwiesen, sie verlängern nur die Zeit der Unsicherheit und damit der Qual für das Kind. Unter den genannten Aspekten muss jeder Aufschub des Verfahrens in seiner Wirkung auf das Kind bedacht werden. Somit bewegen sich die Autoren in ihrer Argumentation jenseits der Pole Elternrecht versus Wächteramt: Ihre Perspektive ist es, aus den Entwicklungsbedingungen des Kindes heraus richterliche Entscheidungen zu begründen. Das impliziert, sowohl zugunsten der leiblichen Eltern als auch gegen sie entscheiden zu können, ohne sich an deren ausdrücklichen Rechten zu orientieren.

Darüber hinaus werden gerichtliche Entscheidungen von den Beteiligten häufig magisch überschätzt.[10] Das Gericht kann im Sinne des „Kindeswohls“ aus entwicklungspsychologischer Perspektive nämlich nicht mehr tun, als bestehende Bindungen anzuerkennen. Vom menschlichen Gefühlsleben aus gesehen, ist das Gesetz ein plumpes Instrument: Es kann nur Beziehungen zerstören, aber nicht Bindungen herstellen oder erzwingen. Es kann auch nicht in die alltäglichen Entwicklungsbedingungen eines Kindes eingreifen. Es kann nicht die Möglichkeiten und Varianten des Menschenlebens voraussehen, denn dieses kann nicht in Formeln gepresst werden. Die Autoren empfehlen daher den Gerichten, weniger ehrgeizig in den Zielen zu sein, sondern den Schwerpunkt auf eine Beschränkung des möglichen Schadens für das Kind aufgrund von Trennungen und Unsicherheiten zu legen.[11]

Als Richtlinie für solche Entscheidungen stellen Goldstein u.a. „die am wenigsten schädliche Alternative“[12] vor. Diese Formulierung macht deutlich, dass ein Kind bereits Opfer seiner Umwelt geworden ist; sie sollte an die Stelle einer idealistischen Suche nach dem, was wohl im Einzelfall das Kindeswohl alles sein könnte treten. Diese realistische Überlegung kann zu einer Abkürzung des Verfahrens beitragen.[13] Der Terminus „Alternative“ soll zudem darauf hinweisen, dass in der Einzelfallentscheidung in der Regel nur sehr wenige Möglichkeiten bestehen, auf psychische Bindungen des Kindes in dessen Sinne Rücksicht zu nehmen.[14] Die Autoren sehen in der realistischen Einschätzung der wenigen Möglichkeiten für das Kind die größte Chance, das von ihnen geforderte Recht auf „psychologische Eltern“ herzustellen und zu sichern, um den Kreislauf von fortgesetzter seelischer Schädigung und Elend zu durchbrechen.

Relevant scheint in diesem Zusammenhang auch, dass noch heute gerichtliche Entscheidungen von Sozialarbeitern wie von Eltern überbewertet werden. Es besteht immer wieder die Hoffnung, dass ein Richterspruch die Konflikte innerhalb der Familie oder zwischen Familie und Jugendamt durch seine offenkundige Eindeutigkeit auflöst. Das aber ist oftmals ein Trugschluss, da in der Regel die Konflikte nicht nur bestehen bleiben, sondern sich meistens auf Kosten des Kindes verschärfen; denn häufig glaubt sich eine der Parteien durch die richterliche Entscheidung übervorteilt und fechtet sie an. Ob also eine gerichtliche Entscheidung das geeignete Mittel ist, dem Kind einen konfliktarmen, stabilen und sicheren Raum zu geben, in dem es einigermaßen glücklich aufwachsen kann, daran scheinen Zweifel mehr als angebracht.[15]

Minimale Kriterien für einen Eingriff in das Personensorgerecht

In „Diesseits des Kindeswohls“ (1982) wenden sich die Autoren der staatlichen Eingriffslegitimation zu und fragen: „Wann und warum sollte die Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern Gegenstand staatlichen Interesses sein?“[16] und: „Warum und unter welchen Bedingungen sollte der Staat legitimiert sein, in die Privatsphäre der Familie einzudringen und sich über die Annahme elterlicher Autonomie hinwegzusetzen?“[17]

Aus den entwicklungspsychologischen Erkenntnissen heraus, wie katastrophal sich Trennungen von den Eltern auf die Entwicklung der Kinder auswirken, erörtern die Autoren Kriterien für staatliche Eingriffe mit der Zielsetzung, diese möglichst zu vermeiden und befürworten daher eine Politik staatlicher Minimaleinmischung.[18] Für sie bedeutet Kindeswohl die Befriedigung des kindlichen Bedürfnisses nach dauerhafter Pflege und Sorge und intimer Beziehung zu mindestens einem autonomen Erwachsenen. Den Kindern darf man für ihre gesunde Entwicklung nicht den Glauben an die Allwissenheit und Allmacht der Eltern vorzeitig durch staatliche Eingriffe rauben.[19] Hiermit argumentieren die Autoren auch gegen die frühzeitige Anwendung von individuellen Rechten des Kindes gegen seine Eltern.

Goldstein u. a. geben vier Bereiche an, in denen sie staatliche Interventionsgründe, bei aller Mahnung, die Eingriffe so selten und gering wie möglich zu halten, für notwendig und legitim erachten. Der erste Bereich betrifft die Anträge von Eltern auf Regelung des Sorgerechtes bei Trennung sowie bei Anträgen der Eltern, in welchen sie ihre Rechte an den Kindern beenden wollen.[20] Solche Entschlüsse der Eltern setzen deren autonome Entscheidung voraus und gelten von daher als eine freiwillige Bitte um staatliche Hilfe, die nicht abgewiesen werden sollte. Der zweite Bereich betrifft strittige Fälle bei Inpflegenahmen von Kindern. Hier plädieren die Autoren dafür, den psychischen Eltern, welche dann in der Regel die Pflegeeltern sind, den Vorrang zu lassen und deren Beziehung zu den Kindern zu schützen, indem Verunsicherungen im Pflegeverhältnis beseitigt werden.[21] Der dritte Bereich soll im folgenden Absatz genauer dargestellt werden, da er das Arbeitsfeld des Jugendamtes am weitreichendsten bestimmt und die größten Unsicherheiten in sich birgt: er betrifft den Missbrauch elterlicher Gewalt.[22] Die Autoren fassen darin den sexuellen Missbrauch von Kindern, Körperverletzung, das Unvermögen der Eltern, ihre Kinder vor dem Erleiden von Verletzungen zu bewahren, und seelische sowie körperliche Vernachlässigung zusammen. Der vierte und letzte Bereich betrifft die Weigerung der Eltern, lebensrettenden, medizinischen Maßnahmen zuzustimmen.[23] Obwohl der zuletzt genannte Bereich­ ethische Überlegungen von einer relativ normalen kindlichen Entwicklung und einem lebenswerten Leben mit einschließt, soll dieser Bereich nicht weiter erörtert werden, da er die hier zu bearbeitende Fragestellung kaum berührt.

Die von den Autoren unter dem Missbrauch elterlicher Gewalt subsumierten Situationen sind zumeist eindeutig und machen eine Intervention für die Kinder zwingend notwendig. Die Autoren nennen zuerst den Tod oder das Verschwinden der Eltern, welche versäumt haben oder versäumen mussten, genaue Vorkehrungen für die Sorge und Pflege der Kinder zu treffen. Hier wäre lediglich festzustellen, ob die von den Eltern getroffenen Vorkehrungen ausreichen und zum Wohl des Kindes akzeptiert werden können. Wenn nicht, so müsste das Kind ohne Berücksichtigung eventueller Wünsche der Eltern und ohne Verzögerung in staatliche Obhut genommen, das heißt dem Kind eine Ersatzfamilie gestellt werden. Den zweiten eindeutigen Interventionsgrund sehen die Autoren bei sexuellem Missbrauch an einem Kind, wenn die Eltern oder der Elternteil strafrechtlich verurteilt oder infolge einer Geisteskrankheit als im juristischen Sinne schuldunfähig angesehen werden.[24] Differenziert davon wird der sexuelle Missbrauch bei nicht sichtbarer Körperverletzung betrachtet, bei dem lediglich ein Verdacht besteht. Die Autoren glauben, dass sich der bereits zugefügte Schaden beim Kind durch Nachforschungen und die Einleitung der Fremdunterbringung verschlimmern könnte, da zusätzlich die bereits gestörte Familienintegrität weiter beeinträchtigt wird und auch kein Konsens darüber besteht, was weniger schädlich ist.[25] Der dritte Interventionsgrund ist die schwere Körperverletzung an einem Kind durch die Eltern, versuchte Körperverletzung oder wiederholtes Unvermögen der Eltern, ihr Kind vor dem Erleiden solcher Verletzungen zu bewahren.[26] Elterliche Gewaltanwendung und Vernachlässigungsschäden werden einerseits als ein Interventionsgrund genannt, obwohl der Sozialarbeiter aus heutiger Sicht seine Interventionsgründe differenzierter überdenken sollte. Für die Kinder besteht andererseits grundsätzlich kein Unterschied, denn sie befinden sich beim Missbrauch sowie bei der genannten Form von Vernachlässigung möglicherweise sogar in Lebensgefahr und können schwer traumatisiert kein Vertrauen mehr in die Eltern entwickeln. Die Autoren bewerten dabei die psychische Gesundheit der Kinder nicht am Maß ihrer sozialen Anpassung, sondern am Maß der Schwere ihrer inneren Konflikte.[27]

Die Autoren befürworten somit lediglich bei strafrechtlich eindeutig verfolgbaren Vergehen der Eltern einen Eingriff in die Privatsphäre der Familie. Für alle anderen Fälle, die in der Grauzone zwischen zu verfolgenden Straftaten an Kindern und gerade noch gelungener Kindheitsentwicklung[28] liegen, und bei denen in der Arbeit von Sozialarbeitern die größte Unsicherheit liegt, können sie keine Hilfestellung geben. So kann man Goldsteins u.a. Versuch, minimale Negativkriterien von Kindeswohl zu entwickeln, auch als einen Weg bezeichnen, die eigentlichen Probleme, wie die Anamnese, Diagnose und Intervention[29] die der Begriff „Kindeswohl“ den Sozialarbeitern bereitet, zu umgehen.

Allerdings könnte man eine Orientierung für sozialarbeiterisches Handeln daraus ableiten, nämlich den Kindern Zeiten der Ungewissheit zu ersparen. Daraus ergibt sich für die Sozialarbeit: sie muss in erster Linie sicherstellen, dass die Kinder eine psychologische, elterliche Bezugsperson haben. Als das größte Verdienst der Autoren ist jedoch anzusehen, dass sie die idealistische Suche, was das „Wohl des Kindes“ sein könnte, grundsätzlich in Frage stellen und statt dessen ihre Überlegungen auf die realistischen Möglichkeiten eines Kindes auf stabile Bindungen beschränken.[30]

So plädiert auch Spiros Simitis im Anhang von „Diesseits des Kindeswohls“ dafür, die juristische Suche nach der Kindeswohldefinition aufzugeben;[31] das heißt es sollen, wenn möglich, Versuche unterlassen werden, die „natürliche“ Definitionsmacht fürs Kindeswohl der leiblichen Eltern brechen zu wollen, und damit ihren Widerstand herausfordern, was für das Kind jahrelange Unsicherheit in der Zugehörigkeit bedeuten kann (Rechtsstreit über mehrere Instanzen, Gutachten usw.). Er fordert vielmehr, die Kooperation mit den Eltern zu suchen und sich Gedanken darüber zu machen, mit welchen Mitteln die Familie in die Lage versetzt werden kann, Defizite auszugleichen oder Entlastungen annehmen zu können. Es sollte den Eltern ermöglicht werden, zwischen ihren eigenen Interessen und den Belangen des Kindes unterscheiden zu lernen und das heißt möglicherweise auch, sich aus eigener Einsicht für eine Fremdunterbringung für das Kind zu entscheiden. Die Gefahr bleibt dennoch, dass auch diese Hilfen zum außerfamilialen Steuerungsinstrument werden und dadurch die elterliche Autonomie eingeschränkt wird, da Unterstützungsmaßnahmen sich durchaus auch als Anpassungsmittel an staatliche Verhaltenserwartungen eignen.[32]

Spiros Simitis entwickelt damit seinerseits ein Ideal von Kindeswohl: Kinder brauchen also für ihre gesunde Entwicklung autonome Eltern, welche unmittelbar auf die Äußerungen und Taten der Kinder eingehen und eingreifen können. Jugendamt und Gericht müssen dafür sorgen, dass das Kind solche Eltern bekommt, sei es, dass seine leiblichen Eltern dazu befähigt werden, sei es, dass das Kind Ersatzeltern bekommt. So sehr man aber jedem Kind wünschen mag, zu jeder Zeit autonome und fürsorgliche Eltern zu haben, so bieten einerseits die Familien, mit denen die Sozialarbeiter zu tun haben, in der Regel ein ganz anderes Bild (siehe einleitende Fallgeschichte auf Seite 5). Andererseits muss das Jugendamt durch seine oben beschriebene Verwaltungsstruktur geradezu an diesen hohen Ansprüchen immer wieder scheitern, das heißt, das Kindeswohl bleibt auf der Strecke. Obwohl Goldstein u.a. mit der „am wenigsten schädlichen Alternative“ eine scheinbar realistische Richtlinie für richterliche Entscheidungen zum Kindeswohl entwickelt haben, ist die dahinter stehende Idee von Kindeswohl so unrealistisch, dass die Sozialarbeit diese nur rudimentär verwirklichen kann.[33]

Da auch Simitis eine mangelhafte Diskussion über das Kindeswohl feststellt, fordert er: „Ein Kindschaftsrecht, das sich der Ambivalenz aller Beteuerungen, das Kindeswohl wahren zu wollen, ebenso bewußt ist wie der Notwendigkeit, seine Anforderungen in Kenntnis der Familiendynamik formulieren zu müssen, hat keine Wahl: Es kann den unendlich diffizilen und komplexen Sachverhalten, die es zu regeln gilt, nur durch Bestimmungen gerecht werden, die ihrerseits durch zunehmende Komplexität gekennzeichnet sind. Auch und gerade deshalb ist die Diskussion über das Kindeswohl kein Reflexionsprozeß, der fertige Rezepte anzubieten vermag, sondern eine immer wieder aufzunehmende und stets von neuem auf ihre Ziele und Auswirkungen hin zu kontrollierende Auseinandersetzung mit den Entwicklungs- und Existenzbedingungen des Kindes und der Familie.“[34] Diese Forderung bedeutet nicht nur eine Aufforderung an die Richter, sich für gutachterliche Stellungnahmen von entwicklungstheoretischen als auch familientherapeutischen Ansätzen zu sensibilisieren und fortzubilden, sondern auch eine Aufforderung an Disziplinen wie Psychologie und Pädagogik, sich an dem Reflexionsprozess zum Kindeswohl zu beteiligen. Andererseits macht Simitis gleichzeitig klar, dass dieser Prozess, der die beteiligten Spezialisten immer begleiten wird, an Komplexität zunehmen und je nach gesellschaftlicher Entwicklung zu anderen Ergebnissen für den Begriff Kindeswohl führen wird.

Kriterien für professionelles Handeln in der Zusammenarbeit der beteiligten Spezialisten

Im dritten Teil der Buchreihe von Goldstein u.a. mit dem Titel „Das Wohl des Kindes“[35] beschäftigen sich die Autoren schließlich mit Kriterien von professionellem Handeln der am gerichtlichen Verfahren beteiligten Spezialisten (Richter, Rechtsanwälte, Gutachter, Psychologen, Kinderpsychiater, Sozialarbeiter). Kriterium für professionelles Handeln ist hier vor allem, die Grenzen der eigenen Disziplin nicht zu überschreiten und die fachlichen Standpunkte im Verfahren nicht mit eigenen emotionalen Einstellungen zu vermischen, was nicht mit dem notwendigen Einfühlungsvermögen in das Kind und die beteiligten Eltern zu verwechseln ist.[36] Eine emotionale Verstrickung, welche gerade für die Sozialarbeiter, deren Arbeit immer auch eine Herausforderung ihrer Persönlichkeit ist,[37] eine größere Gefahr darstellt, als vielleicht für einen Richter, drückt sich häufig darin aus, dass sie bei der Bearbeitung des Falles in eine quasi rettungsphantastische Elternrolle schlüpfen und ihre Entscheidungen fällen, als wären sie die Eltern des Kindes. Goldstein u.a. legen dar, dass dieses Verhalten eine Grenzüberschreitung der professionellen Kompetenz bedeutet und zeigen, wie dadurch für die Kinder schmerzliche Fehlentscheidungen gefällt werden.[38]

Die Autoren schließen daher ihre Arbeit mit der Mahnung ab: „Es dient dem Wohl des Kindes, wenn alle beruflich Beteiligten anerkennen, daß sie weder einzeln noch zusammen die Eltern – auch nicht durchschnittliche, unvollkommene Eltern – darstellen oder ersetzen. Ihr Spezialwissen bezieht sich auf Kinder im allgemeinen; ihre Funktion im Unterbringungsverfahren besteht darin, die Chance jedes einzelnen Kindes zu erhöhen, daß es Eltern bekommt, die zwar Allgemeinwissen über Kinder haben, für die aber das jeweilige Kind etwas ganz Besonderes ist.“[39] Die Autoren machen hiermit deutlich, dass die einzigartige und exklusive Eltern/Kindbeziehung, und seien es auch „nur“ Ersatzeltern für das Kind, zu schützen ist, da diese bei einer Trennung und dem Wechsel der Bezugsperson für dieses Kind nicht wiederholbar ist.

Zusammenfassung

Die Erörterung der entwicklungspsychologischen Perspektive in Bezug auf Ergebnisse gerichtlicher Lösungen von kindeswohlgefährdenden Lebenslagen der Kinder hat bestätigt, dass Sozialarbeiter mit größter Anstrengung und unter vollem Einsatz ihrer fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten darauf hinarbeiten sollten, eine Anrufung des Gerichtes zu vermeiden, das heißt den Kindern ihre psychologischen Eltern zu erhalten.

Die Kriterien für einen minimalen staatlichen Eingriff in die Familien können zum Beispiel dazu beitragen, dass Trennungen, die sich in der Rückschau als ungerechtfertig herausstellen, vermieden werden. Aber für die Sozialarbeit sind sie nur als Orientierung an der Grenze zur Kindeswohlgefährdung hilfreich, da sie bei weniger eindeutigen Fällen keine Orientierung bieten.

Die Anwendung der „am wenigsten schädlichen Alternative“ bei gerichtlichen Entscheidungen erscheint als ein realistisches Konzept, den Kindern möglichst wenig zusätzliches Leid zuzufügen, da hiermit anerkannt wird, dass dem Kind bereits Leid zugefügt wurde und, wenn es zum Gerichtsverfahren bereits gekommen ist, im Einzelfall nur zwischen wenigen Möglichkeiten für das Wohl des Kindes zu entscheiden gibt. Goldstein u.a. versuchen die Perspektiven des Kindes in den Vordergrund zu rücken und den „Streit zwischen den Erwachsenen“ um ihre Rechte zurückzudrängen.

Eine Gefahr zu einem solchen unfruchtbaren „Streit“ um das Kindeswohl sehen die Autoren, wenn sich die beteiligten Spezialisten als die „besseren Eltern“ verstehen und danach handeln. Sie erachten dies als einen schwerwiegenden professionellen Fehler, denn die Spezialisten können weder einzeln noch alle zusammen das Versprechen von wirklichen Eltern erfüllen, tagtäglich für das Kind da zu sein und es als einzigartiges Individuum zu würdigen.


 



[1] Münder u. a. (1997) (II), Seite 23, weisen darauf hin, dass bei den Problemen, die eine Konkretisierung des „Kindeswohls“ bereitet, immer wieder der Wunsch besteht, wenigstens „handfeste“ Kriterien zu entwickeln, die die Grenze zur Kindeswohlgefährdung beschreiben können.

[2] So Michael Coester (1982), Seite 205 ff; Dieter Kreft, Ingrid Mielenz: Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Weinheim/Basel 1996, 4. Auflage. Stichwort: Elterliche Sorge/Elternrecht, Seite 158; oder Johannes Münder u.a. (1997) (II), Seite 39. Aber auch Gerhard Fieseler/Reinhard Herborth (1996); und Susanne Braaksma: Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen. Sozialarbeit im Jugendamt im Spannungsfeld zwischen Elternrecht und Kindeswohl. Münster 1995, geben sie in der Literaturliste an.

[3] Dieter Kreft, Ingrid Mielenz (1996), Stichwort: Elterliche Sorge/Elternrecht, Seite 158; oder Johannes Münder u.a. (1997) (II), Seite 39.

[4] Joseph Goldstein, Anna Freud und Albert J. Solnit: Jenseits des Kindeswohls. Frankfurt am Main 1973, Seite 18 ff

[5] Imagines sind nach psychoanalytischer Auffassung von äußeren Vorbildern der Eltern entlehnte im Inneren der Psyche errichtete Objekte, die es dem Individuum ermöglichen, zum Beispiel Frustrationszustände auszuhalten, bis hin zu der Fähigkeit, moralische Konflikte innerlich zu lösen oder zu balancieren (siehe Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1982, 31.Vorlesung, Seite 502f).

[6] Joseph Goldstein u.a. (1973), Seite 33 ff

[7] Joseph Goldstein u.a. (1973), Seite 19 ff

[8] Joseph Goldstein u.a. (1973), Seite 19 ff

[9] Joseph Goldstein u.a. (1973), Seite 29 ff

[10] Joseph Goldstein u.a. (1973), Seite 46 ff

[11] Joseph Goldstein u.a. (1973), Seite 47

[12] Joseph Goldstein u.a. (1973), Seite 49

[13] Diese Überlegung ist sicherlich für die Sozialarbeit in diesem Sinne hilfreich.

[14] Joseph Goldstein u.a. (1973), Seite 56

[15] Andererseits bemerkt Krieger (1994), Seite 190 f, dass vormundschaftsgerichtliche Maßnamen „für die Eltern eine große Entlastung bedeuten (können, T.L.). Ist es nicht auch häufig zu viel verlangt von Eltern, ihre Kinder freiwillig abzugeben? Die Entscheidung einer Außeninstanz...ermöglicht es ihnen, für ihr Kind zu kämpfen und dadurch die immer vorhandenen Schuldgefühle auf diese Weise zumindest zum Teil zu verarbeiten...Es ist eine fachliche Aufgabe der Sozialen Dienste, diese konstruktive Buhmann-Rolle zu spielen.“ Hier wäre einzuwenden, dass die angedeutete Form der Verarbeitung von Schuldgefühlen bei den Eltern zu einer Verschlechterung der Situation des Kindes führen muss, da es durch die Bemühungen der Eltern keine Chance hat, sich in seine aktuelle Umgebung einzuleben. Man sollte eine Fremdunterbringung nicht erwägen, wenn man lediglich die Eltern zur „Vernunft“ bringen will, sondern wenn das Kind es benötigt.

[16] Joseph Goldstein, Anna Freud und Albert J. Solnit: Diesseits des Kindeswohls. Frankfurt am Main 1982, Seite 15

[17] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 17

[18] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 16

[19] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 19

[20] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 37 ff

[21] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 42 ff

[22] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 57 ff

[23] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 81 ff

[24] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 59 ff

[25] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 60. Dies stellt allerdings eine sehr extreme Position der Nichteinmischung dar, welche aus heutiger Sicht kaum noch vertreten wird. Mittlerweile stehen Sozialarbeiter nicht mehr allein vor der Alternative der Fremdunterbringung oder des Akzeptierens des Missbrauchs. Mit ambulanten Hilfen beispielsweise wird versucht, die Mitarbeit der Eltern zu gewinnen, ihre Kinder vor weiterem Missbrauch zu schützen. Hierbei wird auf die bei den Eltern vermuteten Ambivalenzen zum Thema gebaut und aufgeklärt. Die Frage einer Fremdunterbringung stellt sich heute in diesen Fällen also anders: Sind die Eltern Willens und mit Hilfe in der Lage, ihr Kind vor weiterem Missbrauch zu schützen? Sind die Eltern dazu bereit, ist auch für das Kind die bestmögliche Verarbeitung seiner Beschädigungen möglich.

[26] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 66 ff

[27] Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 68. Die Schwere der Konflikte ist nicht isoliert als solche zu betrachteten, sondern ist vor allem von der Fähigkeit und Reife des Kindes abhängig, schwere Konfliktspannungen balancieren zu können, was immerhin als erbrachte Erziehungsleistung der gestörten Familie zu werten ist.

[28] Was man sich genauer darunter vorzustellen hat, muss meines Erachtens offengelassen werden, da ich den Verdacht habe, dass die Vorstellungen diesbezüglich sehr vielfältig sind und kein Konsens darüber besteht. Welche Vorstellungen Sozialarbeiter im Jugendamt individuell über eine einigermaßen gelungene Kindheit haben, müsste erforscht und die Ergebnisse für eine Konsensbildung diskutiert werden.

[29] Siehe unten Seite 58 die sozialpädagogischen Möglichkeiten und sozialpädagogisches Können als Mittel zur Realisierung von Kindeswohl.

[30]Die im KJHG geforderte Entscheidung im Einzelfall kann in diesem Sinne ausgelegt werden.

[31] Spiros Simits (Professor für Recht in Frankfurt). In: Goldstein u.a.: Diesseits der Kindeswohls. Frankfurt am Main 1982, Seite 180

[32] Spiros Simits. In: Goldstein u.a. 1982, Seite 171

[33] Abgesehen davon wirkt ein solches Ideal diskriminierend auf Kinder, die keine Eltern haben und im Heim leben „müssen“. Hilfreich wäre vielleicht eine Vorstellung von Kindeswohl, die sich nicht so sehr an den Fähigkeiten und Leistungen der Eltern orientieren muss.

[34] Spiros Simits. In: Joseph Goldstein u.a. (1982), Seite 194 f

[35] Joseph Goldstein, Anna Freud und Albert J. Solnit: Das Wohl des Kindes. Grenzen des professionellen Handelns. Frankfurt am Main 1986

[36] siehe Joseph Goldstein (1986), Seite 107 ff

[37] siehe weiter unten „der Fall mit“ von Burkhard Müller (1997), Seite 45

[38] Dies möchte ich weiter unten auf Seite 61 im Rahmen sozialpädagogischer Professionalität (Burkhard Müller) noch einmal aufgreifen.

[39] Joseph Goldstein u.a. (1986), Seite 118

 
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