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Teil 3: Sozialpädagogische Möglichkeiten und sozialpädagogisches Können als Mittel zur Realisierung von Kindeswohl

1)                 Grundlagen der sozialpädagogischen Perspektiven für die Arbeit mit den Klienten

Die Diagnostik von Kindeswohlgefährdungen, wie sie Harnach-Beck versteht, ist in der Praxis häufig schwierig. Dadurch, dass die Klienten hauptsächlich wegen des Verdachts ihre Kinder mangelhaft zu erziehen, erst mit dem Jugendamt in Berührung kommen, fühlen sie sich von den „Experten“ dort schnell gemaßregelt und sogar entmündigt. Zur Informationsgewinnung müssten sie motiviert werden, aber die meisten Eltern bleiben dafür nicht oder schwer zugänglich. Nun stellt sich die Frage: Was kann die Sozialpädagogik zur Lösung dieses Problems beitragen? Mit der „Einführung in die Sozialpädagogik“[1] von Klaus Mollenhauer soll die speziell sozialpädagogische Perspektive auf die Zusammenarbeit mit den Klienten dargestellt werden. Die sozialpädagogische Methode stellt Entwicklungs- und Emanzipationspotenziale bereit, die bei der Arbeit am Kindeswohl hilfreich sind.

Mollenhauer betont schon 1964: „Sozialpädagogik ist immer auch situationsgebundene Erziehungsplanung, in der sogenannten Erziehungsfürsorge wie in jeder anderen Form von Jugendhilfe. Es unterscheidet gerade die Sozialpädagogik wesentlich von der Schulpädagogik, daß sie für besondere Erziehungsnotstände pädagogische Planungsmöglichkeiten bereit stellt, die jeweils den Individuen, Gruppen oder Orten angemessen sind. Deshalb spielen in ihr auch soziale und psychologische Diagnosen, Kenntnis der Rechtsmöglichkeiten, Erwägen der verschiedenen Methoden eine so entscheidende Rolle. Es gilt, das für die je besondere Erziehungssituation Richtige zu finden. Das gelingt nur, wenn zwischen allen beteiligten Erziehungseinrichtungen bzw. zwischen allen Trägern eine Kooperation stattfindet. Diese Kooperation leistet das Jugendamt.“[2] Mollenhauer stellt damit das Jugendamt an die Schnittstelle und an den Scheideweg für die Zukunft hilfebedürftiger Familien.

„Die entscheidende Voraussetzung dafür, daß solche Erziehungsplanung in sinnvoller und zweckentsprechender Weise geschieht, ist die sachkundige sozialpädagogische Diagnose der Situation. Die Ergebnisse der Sozialforschung und der Psychologie sind hier zwar unentbehrlich, in ihnen ist aber nicht das geleistet, was für den Ansatz einer sozialpädagogischen Planung erforderlich ist (...). So unentbehrlich allgemeinere Forschungsergebnisse sein mögen, die diagnostische Arbeit beginnt immer erst im Augenblick der konkreten Situation; ihr Gegenstand ist dabei nie das Gegenüber, der Heranwachsende allein, sondern die komplexe Konstellation, in der er sich im Augenblick solchen Gegenübers befindet: das Gespräch, die Gruppe, die Familie, das Heim. Das objektivierende Verfahren solcher Diagnose erheischt daher, daß der Sozialpädagoge auch sich selbst und die von ihm eingesetzten Mittel gleichsam von außen sieht und in Analyse und Deutung kritisch mit einbezieht. Das erfordert Distanz und Reflexion auch und gerade dort, wo er selbst intensiv engagiert ist. Es erfordert, daß er imstande ist, sogar dieses Engagement als Instrument seiner Diagnose zu verstehen und zu deuten; (...). So kann schon der Anfang eines Gesprächs, die Form einer Heimeinweisung, der Stil und die Atmosphäre einer Institution die richtige Diagnose verhindern oder befördern.“[3] Mollenhauer unterscheidet die sozialpädagogische Diagnose von der eines außenstehenden Experten. Erstere zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Klienten nie isoliert betrachtet und nicht nur das gesamte Umfeld mit einbezieht, sondern die Diagnosesituation und auch die Person des Diagnostizierenden kritisch reflektiert. Das bedeutet, dass die Diagnose von Kindeswohl in der Familie immer auch zugleich eine Diagnose der gesamten Umstände, unter denen es realisiert werden soll, darstellt.

Schutz der Kinder vor ungünstigen Einflüssen der Erwachsenenwelt

Als erste und wichtigste Aufgabe der Sozialarbeit beschreibt auch Mollenhauer den Schutz der Kinder, erstens vor konkreten Schädigungen durch die moderne Gesellschaft im Sinne des Schutzes der sozialen Gesundheit der Kinder und zweitens vor dem Ernst und Zwang der Erwachsenenwelt im Sinne des Schutzes der Humanität. Das Mittel diesen Schutz herzustellen, ist die Isolierung der Kinder von den Gefahrenquellen. Mollenhauers Vorbilder dafür sind Rousseau und Pestalozzi. Mollenhauer sieht die Gefahren, vor denen die Kinder geschützt werden müssen, anders als Maas oder die Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft, nicht nur im Sinne von Misshandlung, Missbrauch und physischer Vernachlässigung durch die Eltern, sondern er sammelt eher gesellschaftliche Aspekte, die den Schutz der Kinder notwendig machen: „vor körperlichen Schäden im Verkehr, durch Überforderung in der Arbeit, durch überstarke Nervenreize; vor seelischen Schäden durch falsche Erziehung, durch Frustrationen, durch Lieblosigkeit, Gleichgültigkeit, durch die Fremdheit einer nicht verstandenen oder nicht verstehenden Wirklichkeit der Erwachsenen; vor sittlichen Schäden durch unsittliche Beispiele, durch eine allzu prüde oder allzu libertinistische Öffentlichkeit; vor geistigen Schäden durch die Widersprüche einer differenzierten Kultur, durch Verwirrungen im Hinblick auf das, was wahr und falsch, gerecht und ungerecht, gut und schlecht genannt wird, durch die Widersprüche zwischen den formulierten Postulaten und der Praxis in den Handlungen und Entscheidungen.“[4] Gegen eine zu starke Isolierung der Kinder vor der Erwachsenenwelt wendet Mollenhauer aber ein, dass diese nur dann reife Eigenschaften entwickeln können, wenn sie in einer produktiven Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, die Differenzen und Widerstände überwinden. Von daher sollte der Pädagoge genau wissen an welchen Stellen er das Kind schützen muss.

Pflege des Vermittelnden zwischen den Welten

Während Schutz die notwendige aber entwicklungshemmende Funktion des Erziehens beschreibt, so steht der Begriff Pflege für die gegenteilige Bewegung, nämlich das vorsichtige und kontrollierte Aufeinanderbeziehen von Heranwachsenden und Erwachsenenwelt. „Pflege ist (daher, T.L.) auch Auswahl; überall in der Erziehung, das liegt in ihrem Begriff, kommen die normativen Kriterien ins Spiel. Insofern greift auch die erzieherische Pflege in einen gesellschaftlichen Prozeß ein. Nicht alles soll in der Sozialpädagogik gepflegt werden, sondern nur das, was als Kompromiß zwischen der Bedürfnislage der Heranwachsenden und der Erziehungseinrichtung der Erziehenden zustande kommt.“[5] Für den Sozialarbeiter stellt sich hierbei die Frage, welche Auseinandersetzungen mit den Eltern kann und sollte er dem Kind zumuten und wie kann das Kind darin begleitet werden.

Beratung als emanzipatorischer Vermittlungsprozess

„Vieles, was sich in gesellschaftlich einfacheren Lagen aus den Lebenszusammenhängen gleichsam von selbst ergab, muß heute nachdrücklich und absichtsvoll in den Erziehungsprozeß hineingenommen werden. Diese ,Künstlichkeit‘ ist der modernen Erziehung eigentümlich.“[6] Die Beratung ist das Vehikel, mit dem verlorene „Selbstverständlichkeiten“ in die Erziehung hereingenommen werden können. Die Beratung von Eltern ist dabei nur ein Sonderfall der pädagogischen Erziehungssituation.

„Die Beratung gehört zu denjenigen Erziehungsvorgängen, die einen Einschnitt im kontinuierlichen Fluß des gesamten Erziehungsprozesses darstellen (...) Die Beratung beginnt mit einer Frage. Zu einem ,fruchtbaren Moment‘ wird dieser Beginn aber nur, wenn es sich auch in der Tat um eine Frage des Ratsuchenden handelt, wenn er von sich aus in der Tat ein Ratsuchender ist (...) Für den Ratsuchenden bedeutet sie (die Beratungssituation, T.L.) die Vorbereitung einer Entscheidung. Er will aus einer Aporie heraus. (...) der Befragte ist nicht als Erzieher angesprochen, sondern als jemand, der sich im Geflecht der persönlichen und gesellschaftlichen Existenz besser auskennt; man will ihn nicht nur etwas fragen, sondern ihm möglicherweise auch etwas sagen; man erwartet von ihm, daß er zuhört und aus besserer Übersicht eine Antwort gibt. Man erwartet nicht, erzogen zu werden, keine Anweisungen, keine Vorschriften. In der Offenheit liegt die Fruchtbarkeit der Situation.“[7] „Der Rat hat (...) zunächst auch keine Verbindlichkeit; die Antwort des Beratenden ist allenfalls Beispiel, nicht Vorbild, das zur Nachahmung oder Befolgung auffordert. Insofern liegt der pädagogische Sinn der Beratungssituation gerade darin, daß sie die Selbsttätigkeit, die Produktivität, die Phantasie (Hervorhebungen von T.L.) des Ratsuchenden anspricht und erregt, daß sie ihn instand setzt, selbst auf einen Ausweg zu verfallen (...) Eine Beratung, die das Nein des Ratsuchenden nicht duldet oder ihm diese Möglichkeit nicht beständig ernsthaft zugesteht, verfehlt damit ihren Bildungssinn.“[8] Mollenhauer denkt hier das zuende, was auf die Situation im Amt angewendet bedeuten könnte, dem Klienten in der Frage um Kindeswohlrealisierung oder gar einer Gefahrenabwehr die volle Mündigkeit zu gewähren und die volle Offenheit des Beratungsgespräches zu wagen: Der Klient kann auch „Nein“ zu den Hilfeangeboten sagen.

Mollenhauer bedauert in dem Zusammenhang, dass die Sozialpädagogik den Aspekt der Informationsgewinnung der Beratung bis dahin vernachlässigt hat,[9] denn kritische Aufgeklärtheit und engagierte Auseinandersetzung setzen Informationen voraus.[10] Dies ist insofern bedauerlich, da die Beratung immer ein Gespräch ist, bei dem Informationen ohnehin übermittelt werden.

Zusammenfassung

Mollenhauer charakterisiert die Sozialarbeit durch drei Aspekte: Erstens den notwendigen Schutz der Kinder und Jugendlichen vor ungünstigen Einflüssen der Erwachsenenwelt, welcher die Lösung des Problems des vorsichtigen Vermittelns zwischen dem geschützten Raum für das Kind und der Erwachsenenwelt erfordert und daher zweitens auf dem Weg der Pflege derjenigen Anteile, die zwischen Erwachsenen und Kindern verknüpfen, erreicht werden kann. Drittens die emanzipatorische Potenz der Beratung, die als Modell und sozialpädagogisches Setting für eine solche Vermittlung steht. Mollenhauer beschreibt damit in seinen Begriffen den Weg, den die Sozialarbeiter bei der Bearbeitung ihrer Fälle im Sinne des „Kindeswohls“, gehen sollten. Zugleich wird hier deutlich, dass ein wirklich offener Aushandlungsprozess in der Jugendamtsarbeit einen kompletten Verzicht auf Kontrolle und Zwang bedeutet.

Die Frage nach der Informationsgewinnung, wie sie Harnach-Beck problematisiert, erhält mit der sozialpädagogischen Perspektive von Mollenhauer einen ganz anderen Charakter. Überspitzt ausgedrückt fragt Harnach-Beck, wie und durch welche Quellen kann ich möglichst viele Indizien von Kindeswohlgefährdung über mein Objekt Klientenfamilie erhalten, ohne diese zu sehr zu verschrecken. Bei Mollenhauer hingegen ist der Ansatz die Beratungssituation, die initiiert durch den Ratsuchenden das Ziel verfolgt, die Selbsttätigkeit, Produktivität und Phantasie des Klienten anzuregen. Der Informationsfluss ist gleichsam ein Nebenprodukt und ist von daher wenig entstellt.

Leider ist das Konzept Mollenhauer an einem Idealfall von Beratungssituation orientiert, da vorausgesetzt wird, dass die Klienten von sich aus zum Berater kommen. Vielmehr bieten die Klienten alles andere als gute Voraussetzungen für einen emanzipatorischen Prozess der Beratung. Besonders wenn der Sozialarbeiter im Sinne der Ausübung des Wächteramtes gefordert ist und sich Eltern verweigern. Mit Müller soll gezeigt werden, was der Sozialarbeiter tun kann, um trotz aller Widerstände solche Situationen dennoch herzustellen.


 



[1] Klaus Mollenhauer: Einführung in die Sozialpädagogik. Weinheim/Berlin 4. Auflage 1968

[2] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 99

[3] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 100

[4] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 104

[5] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 109

[6] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 110

[7] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 112

[8] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 113

[9] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 113

[10] Klaus Mollenhauer (1968), Seite 115

 

 
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